Das Bundesarbeitsgericht hatte im Rahmen eines Anfechtungsverfahren über die Unwirksamkeit einer im regulären Wahlzeitraum 2022 durchgeführten Betriebsratswahl zu entscheiden.
Folgender Sachverhalt liegt zugrunde:
Die Arbeitgeberin produziert an mehreren Standorten Kraftfahrzeuge. Im Frühjahr 2022 fand in ihrem Werk in Wolfsburg turnusgemäß die Betriebsratswahl statt. Bei Bekanntmachung des Wahlausschreibens im November 2021 galt für den Verwaltungsbereich infolge der Covid-19-Pandemie eine „bis auf Weiteres“ befristete betriebliche Anordnung, so weit wie möglich mobile Arbeit (Homeoffice) zu nutzen. Ausgenommen waren Beschäftigte, deren Tätigkeit eine Anwesenheit im Betrieb erforderte. Im Januar 2022 verlängerte die Arbeitgeberin ihre Anweisung; betroffen war auch der für die Wahl festgelegte Zeitraum vom 14. bis 18. März 2022. Daraufhin übersandte der Wahlvorstand an ca. 26.000 in der Verwaltung tätige Arbeitnehmer unaufgefordert Briefwahlunterlagen. Ab Mitte Februar 2022 kam es im Werk außerdem zu Kurzarbeit infolge von Produktionsausfällen. Deswegen beschloss der Wahlvorstand, alle ihm von der Arbeitgeberin gemeldeten und im Wahlzeitpunkt wegen der Kurzarbeit betriebsabwesenden Arbeitnehmer der schriftlichen Stimmabgabe zuzuordnen. Entsprechend erhielten ca. 33.000 Produktionsmitarbeiter Briefwahlunterlagen zugesandt. An der Betriebsratswahl beteiligten sich 39.498 Wahlberechtigte, davon etwa 35.000 im Wege der schriftlichen Stimmabgabe.
Mit dem von ihnen eingeleiteten Verfahren haben mehrere wahlberechtigte Arbeitnehmer die Betriebsratswahl angefochten. Sie haben verschiedene Verstöße gegen Wahlvorschriften gerügt. Insbesondere die Versendung von Briefwahlunterlagen an alle Arbeitnehmer im Homeoffice und in Kurzarbeit haben sie als unvereinbar mit der Wahlordnung angesehen. Das Arbeitsgericht hat die Wahl antragsgemäß für unwirksam erklärt. Das Landesarbeitsgericht hat den Antrag abgewiesen, sodass sich nunmehr das Bundesarbeitsgericht zu befassen hatte.
§ 24 der Wahlordnung (WO) regelt die wesentlichen Voraussetzungen für die Stimmabgabe per Briefwahl (sog. „schriftliche Stimmabgabe“). Die Wahlordnung nimmt dabei eine Unterscheidung vor, ob Briefwahlunterlagen nur an solche Wahlberechtigte versendet werden, die dies vorher aktiv (§ 24 Abs. 1 WO „auf ihr Verlangen“) beantragt haben oder ob den Wahlvorstand eine Pflicht trifft (§ 24 Abs. 2 WO „von Amts wegen“), Briefwahlunterlagen zu versenden, d.h. ohne vorangegangenen Antrag eines Wahlberechtigten.
Eine Pflicht im Sinne von § 24 Abs. 2 WO besteht nur dann, wenn dem Wahlvorstand bekannt ist, dass Wahlberechtigte entweder
1. im Zeitpunkt der Wahl nach der Eigenart ihres Beschäftigungsverhältnisses,
insbesondere im Außendienst oder mit Telearbeit Beschäftigte und in Heimarbeit
Beschäftigte, oder
2. vom Erlass des Wahlausschreibens bis zum Zeitpunkt der Wahl aus anderen
Gründen, insbesondere bei Ruhen des Arbeitsverhältnisses oder
Arbeitsunfähigkeit,
voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein werden.
Unter § 24 Abs. 2 Nr. 1 WO fallen, so das BAG, Arbeitnehmer, die während der Wahl wegen vorübergehend ausgeübter mobiler Arbeit und wegen Kurzarbeit betriebsabwesend sind. Allerdings kann auf der Grundlage der bisher festgestellten Tatsachen nicht beurteilt werden, ob der Wahlvorstand – insoweit unter Verstoß gegen § 24 Abs. 2 Nr. 1 WO – die Briefwahlunterlagen auch an zur mobilen Arbeit berechtigte Arbeitnehmer übersandt hat, von denen er wusste, dass sie im Wahlzeitraum wegen Unabkömmlichkeit ihre Tätigkeit im Betrieb verrichten. Hierzu ist eine weitere Aufklärung des Sachverhalts durch das Landesarbeitsgericht notwendig. Der Siebte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat die Sache zur neuen Anhörung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Hinweise von Rechtsanwalt Adrian Kalb:
Die Entscheidung des BAG (7 ABR 34/23) liegt bislang nur als Pressemitteilung Nr. 28/24 vor. In der Praxis und insbesondere in Zeiten der zunehmenden Arbeitsplatzflexibilisierung und einem wachsenden Anteil an mobilen Arbeitsorten ist es häufig aus Gründen der Praktikabilität eine Überlegung von Wahlvorständen, pauschal Briefwahlunterlagen an sämtliche Wahlberechtigte zu versenden. Das Bundesarbeitsgericht hat solchen Überlegungen damit wiederholt einen Riegel vorgeschoben. Der Siebte Senat hat klargestellt, dass es in jedem Fall einen Verstoß gegen die Wahlvorschriften darstellt, wenn Wahlvorstände pauschal Briefwahlunterlagen an Wahlberechtigte versenden. Die Betriebsratswahlen finden alle vier Jahre in der Zeit vom 01.03. bis zum 31.05. statt, mithin finden die nächsten Wahlen in der Zeit vom 01.03.2026 bis zum 31.05.2026 statt. In der Praxis zeigt sich, dass es nicht nur sinnvoll, sondern auch erforderlich ist, rechtzeitig an entsprechenden Schulungen zur Durchführung von Betriebsratswahlen teilzunehmen. Hier wird ggf. bekanntes Wissen nicht nur aufgefrischt, sondern insbesondere die aktuelle Rechtsprechung diskutiert.
Gericht: BAG
Az: 7 ABR 34/23
Datum: 23.10.2024